5

 

Reichen stand schweigend über ihr, die Hände auf die Armlehnen des moosgrünen Lehnsessels in einem der Empfangsräume des Anwesens gestützt, auf dem Claire eingeschlafen war. Als er im stockdunklen Keller zu sich gekommen war, hatte er zuerst keine Ahnung gehabt, wo er sich befand oder wie er hergekommen war. Er konnte sich auch nicht gleich daran erinnern, warum der größte Teil seines Körpers offensichtlich durch UV-Licht verursachte Verbrennungen erlitten hatte. So war es manchmal mit ihm, nachdem seine pyrokinetische Energie von ihm Besitz ergriffen hatte. Dann fiel es ihm schwer, sich an die Einzelheiten zu erinnern. Schwer, sich zu orientieren.

Schwer, etwas anderes wahrzunehmen als den wilden Blutdurst, der ihn überwältigte, sobald sein inneres Feuer etwas abgekühlt war.

Seine Orientierungslosigkeit hatte nur kurz angehalten. Dann hatte er eine leichte Duftspur von Vanille und aromatischen Gewürzen eingeatmet.

Claire.

Der Duft ihres Blutes hatte ihn aus dem Dunkel hervorgelockt, die Steintreppe hinauf, bis in den Raum, wo sie jetzt saß und döste. Er atmete ihren Duft ein, als er über ihr aufragte, versucht, die Augen zu schließen und die Erinnerung daran zu genießen, was gewesen war, stattdessen blinzelte er kaum. Er beobachtete die schnellen Bewegungen ihrer Augen unter ihren geschlossenen Lidern.

Sie träumte.

Reichen fragte sich, wie lange sie schon schlief oder wohin ihre Träume sie geführt hatten, dass ihr Puls so schnell schlug wie der eines scheuen Hasen.

Sein durstiger Blick glitt von ihrem schönen, zarten Gesicht zur glatten goldbraunen Haut ihres Halses.

An seiner rechten Seite pochte hektisch ihre Arterie neben einem kleinen scharlachroten Muttermal.

Reichens Fänge füllten bereits seinen Mund aus, aber nun pulsierten sie, seine Augen lagen wie gebannt auf dieser zarten Haut mit dem winzigen Symbol einer Träne, die in die Wiege einer Mondsichel fiel, so nahe an Claires Puls.

Himmel, er war völlig ausgedörrt.

Sein leerer Magen war verkrampft, seine Glieder schwer und erschöpft. Er leckte sich die Lippen und konnte nicht widerstehen, sich ein wenig näher zu ihr zu beugen, bis ihr leichter Pulsschlag in seinen eigenen Adern dröhnte, so laut und fordernd wie eine Trommel.

Gott, er hatte solchen Durst... sein Trieb war wild und animalisch, drängte ihn dazu, auf sie niederzufahren und sich den Bauch vollzuschlagen wie ein Raubtier - das er tatsächlich war.

Doch die Frau unter ihm war Claire, und das hielt ihn zurück. Wie lange hatte er sich gefragt, wie sie wohl schmecken würde? Wie oft war er so nahe daran gewesen - verdammt, noch näher als jetzt - , seine Fänge in ihre samtweiche Haut zu bohren und aus ihrer Vene zu trinken? Einst hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht. Und doch hatte er genau das nie getan, nicht einmal in ihren leidenschaftlichsten Augenblicken zusammen.

So sehr er auch danach gehungert hatte, sie zu schmecken, sie durch ihr Blut an sich zu binden, hatte er sich von seinem Verlangen nach Claire doch nie so weit treiben lassen. Sie war eine Stammesgefährtin.

Anders als beim Großteil der Frauen der Spezies Homo sapiens auf diesem Planeten hatten ihr Blut und ihre DNA ungewöhnliche Eigenschaften.

Claire und all die anderen, die wie sie das purpurrote Mal irgendwo auf ihrem Körper trugen, verfügten auch über besondere übersinnliche Fähigkeiten. Und im Unterschied zu den anderen Menschenfrauen besaßen sie die Fähigkeit, eine unauflösliche Verbindung mit einem Stammesvampir einzugehen und seine Kinder auszutragen. Wenn eine Stammesgefährtin einem Angehörigen von Reichens Spezies ihr Blut anbot, war das ein kostbares Geschenk - die heiligste Gabe überhaupt.

Es erschuf eine Verbindung, die nur der Tod aufheben konnte.

Reichen konnte sich nicht vormachen, dass er mit ihr nie in Versuchung gewesen wäre. Aber er war nicht der Typ gewesen, um sich dauerhaft zu binden, schon gar nicht damals. Und trotz seines ausschweifenden Lebenswandels hatte ihn, so lachhaft ihm das jetzt auch erschien, seine Ehre davon abgehalten, sich etwas von Claire zu nehmen, das nicht rückgängig zu machen war. Ein Schluck ihres Blutes, und sie würde in ihm leben bis zu seinem letzten Atemzug. Er würde immer an sie gebunden sein, immer von ihr angezogen, auch wenn sie einem anderen Mann noch so viele Treueschwüre abgelegt hatte.

Durch seinen benebelten Verstand, der sich allmählich erholte, erinnerte er sich immer noch daran, wie schwer es ihm gefallen war, seinem Hunger zu widerstehen. Aber er war ein Muster an Selbstbeherrschung gewesen, bis ganz zum Schluss.

Wenn er gewusst hätte, dass sie so wenig Zeit verlieren würde und sich sofort Wilhelm Roth in die Arme warf...?

Reichen knurrte allein schon bei dem Gedanken.

Sein Bluthunger war noch nicht ganz abgekühlt.

Noch war er nicht von dem Drang befreit, hier und jetzt seinen Durst an ihr zu stillen. Er beugte sich tiefer zu ihr hinab, unfähig, seinen hungrigen Blick vom rhythmischen Schlagen ihres Pulses loszureißen.

Ihr Duft lockte ihn mindestens genauso wie das Rauschen ihres Blutes unter ihrer Haut.

Sie war sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. So aus der Nähe raubte sie ihm schlichtweg den Atem. Er brannte darauf, sie zu berühren.

Himmel, sie brachte ihn viel heftiger zum Brennen als Sonnenlicht oder Wut.

Es bestürzte ihn, erkennen zu müssen, dass er sie immer noch wollte, nach all der Zeit noch. Nach alldem, was ihr Gefährte getan hatte, um ihn zu vernichten.

Er wollte Claire für sich allein... immer noch.

Reichen holte wild Atem, bleckte die Lippen und enthüllte seine Fangzähne. Er wollte sie, und bei Gott, er würde sie sich nehmen.

„Nicht“, knurrte er sich selbst zu. „Verdammt, nicht.“

Claires Augen öffneten sich und wurden groß. Sie keuchte, wich vor ihm zurück, so weit sie es in dem Lehnsessel konnte, in dem sie gefangen war. Ihre dunkelbraunen Augen sahen ihm forschend ins Gesicht, zu intelligent, um misszuverstehen, was beinahe passiert wäre.

Reichen befahl sich innerlich, sich trotz seines Hungers zusammenzureißen, obwohl ihm immer noch das Zahnfleisch pulsierte vor Gier, Nahrung zu sich zu nehmen. „Schön geträumt, Frau Roth?“

„Gar nicht“, antwortete sie und starrte ihn fest an.

„Nach alldem, was letzte Nacht hier passiert ist, werde ich mit Sicherheit noch lange Albträume haben.“

Er spürte einen Anflug von Scham, ignorierte ihn aber, denn jetzt musste er am Ball bleiben. „Du hast doch eben nicht zufällig deinen Gefährten im Traum besucht?“

Claire blinzelte nicht einmal. Ihrem unverwandten Blick war nicht entgangen, dass Reichen ihre spezielle übersinnliche Fähigkeit nicht vergessen hatte, obwohl sie sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatten.

Ihre Wangen röteten sich ein wenig, und er fragte sich, ob sie gerade daran dachte, wie sie ihn damals in seinen Träumen besucht hatte - wie sie mitten in einige seiner erotischsten Fantasien eingedrungen war, damals, in diesen intensiven, verliebten, leidenschaftlichen Monaten.

Er hatte keinen einzigen Augenblick ihres Zusammenseins vergessen, ob wach oder in ihren Träumen vereint, und er hatte es weiß Gott versucht.

„Wilhelm mag es nicht, wenn ich in seine Träume einbreche“, murmelte sie.

„Also hast du es getan“, erwiderte Reichen. Er hielt die Hände weiter auf die Sessellehnen gestützt, hielt Claire dort gefangen, während er seine Befragung fortsetzte. „Wo ist er, Claire?“

„Ich habe dir doch gesagt, ich weiß es nicht.“

„Aber du hast eine Ahnung“, sagte er und versuchte, sich nicht von seinem Hunger ablenken zu lassen oder davon, dass ihm plötzlich immer deutlicher bewusst wurde, wie nah ihre Körper einander waren. Er konnte spüren, wie ihre Hitze sich mit seiner mischte und seine heilende, verstrahlte Haut sich anfühlte, als würde sie von einer offenen Flamme berührt. „Täusche dich nicht, ich finde ihn.

Die anderen sind mir nicht entkommen, und das wird auch ihm nicht gelingen.“

Sie war auf der Hut, sichtlich abgestoßen.

„Welche... anderen?“

„Seine getreuen Bluthunde, die seine Befehle ausführten, ohne Rücksicht auf unschuldige Menschenleben. Ich habe sie alle ausgeschaltet, einen nach dem anderen. Ihn nicht, noch nicht. Ihn habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben, damit er weiß, dass ich komme. Ich wollte, dass er versteht, dass er für seine Taten bezahlen muss.“

Claire schluckte, schüttelte leicht den Kopf. „Was du letzte Nacht gesagt hast - dass Wilhelm für die Toten in deinem Dunklen Hafen verantwortlich ist... du irrst dich, Andreas. Du musst dich irren.“

„Was ich sagte, ist die Wahrheit.“

„Es kann nicht sein...“

„Warum nicht?“, fuhr er sie an. „Weil das dann bedeutet, dass du nicht nur mit einem stadtbekannten Kriminellen zusammen bist, sondern auch mit einem kaltblütigen Mörder?“

Sie runzelte die schmalen dunklen Augenbrauen, in einem Ausdruck irgendwo zwischen Mitleid und Verachtung. „Und das sagt ausgerechnet einer, der selbst mehr als ein Dutzend Tote auf dem Gewissen hat?“

Reichen taumelte zurück, empört von der Erinnerung. Er wich ein paar Schritte zurück, dann drehte er sich um und stapfte wütend aus dem Raum. Er wusste nicht, wohin er ging. Es war ihm auch verdammt egal. Er wusste, dass er das Haus nicht verlassen konnte, solange es draußen hell war, und momentan fühlte er sich wie in einem Käfig.

Claire folgte ihm langsam, ihre Schritte waren auf dem polierten Marmorboden der Halle fast geräuschlos. „Andreas, ich weiß, dass du schrecklich verletzt und verwirrt sein musst nach allem, was du durchgemacht hast. Wir können uns später darum kümmern. Jetzt brauchst du vor allem Ruhe und Frieden, bis dein Körper sich von den Verbrennungen erholt hat. Du brauchst Ruhe...“

„Was ich jetzt brauche, ist Blut“, fauchte er, fuhr zu ihr herum und starrte sie mit einem harten, bernsteinfarbenen Blick an. „So, wie du zögerst, mir Roth auszuliefern, schätze ich, du lässt mich auch nicht von dir trinken.“

Sie wurde blass vor Entsetzen, genau wie er es beabsichtigt hatte.

Reichen setzte seinen rastlosen Gang durch die Halle fort und bemerkte die Fotos und gerahmten Kunstwerke an den Wänden.

Mit frisch entfachtem Ärger suchte er nach Bildern von Claire und Roth, dem liebenden Paar, begierig, der Wut, die immer noch in seinen Eingeweiden brannte, neue Nahrung zu geben. Es gab nur eine Handvoll Fotos von ihnen beiden zusammen, oft inmitten einer Gruppe von Angehörigen des Dunklen Hafens oder der Agentur oder bei diversen Eröffnungszeremonien auf Abendveranstaltungen.

Claires Lächeln war auf jedem einzelnen Foto perfekt: freundlich, ohne übermäßig fröhlich zu sein, höflich, ohne zu kühl zu wirken.

Reichen kannte dieses Lächeln nicht. Es wirkte so poliert und fragil wie die Glasscheibe, die es bedeckte.

„Wo hat Roth hier sein Büro?“, fragte er und wandte sich von dieser erstarrten, perfekten Claire ab, um die Frau anzusehen, die jetzt hinter ihm stand, weit außerhalb seiner Reichweite. „Wenn er hier Computer hat oder irgendwelche Akten, will ich sie sehen.“

„So was wirst du hier nicht finden“, sagte sie schlicht. „Wilhelm führt seine Geschäfte vom Dunklen Hafen Hamburg aus und von einem Büro in der Innenstadt... soviel ich weiß. Über Geschäftliches haben wir nie geredet.“

Reichen stieß ein Grunzen aus, nicht überrascht. Er ging schon an einem anderen Raum vorbei, der ans Foyer angrenzte, und warf einen Blick in ein geschmackvoll möbliertes Wohnzimmer. Dann kam er an einem kleinen Ballsaal vorbei, der mit seinen Spiegelwänden, dem polierten Parkettboden und der beigen, eleganten Stuckdecke wie eine luftige Höhle wirkte. Im hinteren Teil des Raumes stand ein ebenholzschwarzer Flügel, der sich in all dem polierten Glas, das ihn umgab, vielfach spiegelte.

„Schön zu sehen, dass manche Dinge sich nicht geändert haben“, murmelte er. Claire sah in den Ballsaal, sie wirkte verwirrt. „Der Flügel“, sagte er. „Du bist musikalisch begabt, wenn ich mich recht entsinne.“

Ihr Stirnrunzeln glättete sich etwas, als sie ihn anstarrte. „Oh, ich... ich habe schon lange nicht mehr gespielt. Ich bin inzwischen mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt. Für Musik bleibt mir da kaum noch Zeit.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte er, sich bewusst, wie sarkastisch es klang. „Ist von dir noch irgendetwas übrig, an das ich mich erinnern würde, Claire?“

Ein langes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Reichen erwartete, dass sie ihn stehen lassen würde oder vielleicht sogar davonlief, zur Eingangstür hinaus ins Tageslicht, wohin er ihr nicht folgen konnte. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern, sah ihn mit ihren tiefen braunen Augen durchdringend an, eigensinnig wie eh und je. „Wie kannst du es wagen?

Ich habe dich nicht darum gebeten, in mein Leben zu stürmen und es mir kaputt zu machen. Ich bin dir über mein Leben weder Erklärungen noch Rechenschaft schuldig.“

Da hatte sie allerdings recht, er wusste, dass er eben sehr unfair gewesen war. Und die Antwort auf diese Fragen würde ihn Wilhelm Roth auch nicht näherbringen.

Nicht, dass all diese Argumente irgendetwas zu bedeuten hatten, wenn Claire so auf Armeslänge von ihm entfernt stand und vor Wut schäumte, wie er es selten an ihr gesehen hatte. Allerdings hatte er es absolut verdient. „Wir haben uns beide verändert, nicht wahr, Andre?“

„Du auf jeden Fall.“

„Was hast du denn erwartet? Was hätte ich tun sollen? Du bist doch der, der mich verlassen hat, weißt du nicht mehr?“

Er dachte daran, wie abrupt er damals gegangen war, ohne ihre Beziehung zu beenden, ohne jede Erklärung. Damals hatte er seine Gründe gehabt, aber ironischerweise zählten die heute alle nicht mehr.

Und schon gar nicht nach den Geschehnissen der letzten Nacht. „Ich konnte nicht bleiben. Ich musste fort.“

„Du konntest mir nicht einmal sagen, warum? An einem Tag waren wir zusammen, und am nächsten warst du fort, ohne ein Wort.“

„Ich musste mir über einige Dinge klar werden“, sagte er.

Gott, wie er es hasste, dass er diese überwältigende Angstattacke immer noch spüren konnte, den Schock und Abscheu vor sich selbst, die ihn gezwungen hatten, vor allem und jedem davonzulaufen, der ihm lieb und teuer war. Nach dem, was geschehen war, als er Claire zum letzten Mal gesehen hatte, war ihm keine andere Wahl geblieben, als sie zu verlassen. Er hatte sie nicht verletzen wollen, aber sie - und jeder andere Mensch - war in seiner Nähe nicht mehr sicher, solange es ihm nicht gelungen war, die schreckliche Kraft in den Griff zu bekommen, die damals zum ersten Mal in ihm erwacht war.

Und bis er so weit gewesen war, hatte er sie schon an Roth verloren.

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich bin zurückgekommen, Claire.“

„Über ein Jahr später“, erwiderte sie knapp.

„Freunde in den Dunklen Häfen haben mir erzählt, dass du endlich wieder aufgetaucht bist, in Berlin.“

Sie schüttelte den Kopf, Bedauern glänzte in ihren Augen. „Ich dachte, du würdest nie mehr zurückkommen.“

„Also hast du nicht gewartet.“

„Hast du mir denn einen Grund gegeben, auf dich zu warten?“

„Nein“, sagte er langsam.

Er wollte ihr noch mehr sagen, Dinge, die er ihr wahrscheinlich schuldig war, aber jetzt war das alles nur noch sinnloses Gerede. Claire hatte recht. Sie hatten sich beide verändert. Sie hatten in sehr unterschiedlichen Welten gelebt, und obwohl sich ihre Wege jetzt inmitten von Gewalt und Blutvergießen erneut gekreuzt hatten, würde nichts, das er sagen konnte, etwas ändern - nicht an der Vergangenheit oder daran, was zwischen ihnen hätte sein können.

Er war aus einem einzigen Grund hier: um das Unrecht zu rächen, das Wilhelm Roth ihm angetan hatte.

Reichen ging weiter.

Claire folgte ihm, blieb aber auf Distanz, als wollte sie ihm nicht zu nahe kommen. „Was hast du vor?“

„Das habe ich dir schon gesagt. Ich suche Informationen darüber, wo sich dein Gefährte aufhält.“

„Und ich habe dir gesagt, dass du hier nichts finden wirst. Das hier ist mein Haus, nicht seines.“

Reichen hörte die seltsame Bemerkung, aber er ging schon weiter. Er sah einen Raum voller deckenhoher Bücherregale und ging auf die offene Tür zu.

„Andreas“, sagte Claire hinter ihm. „Bitte, nicht dort. Die Bibliothek ist mein Privatraum. Du wirst dort nichts Wichtiges fin...“

„Dann dürfte es dir ja wohl nichts ausmachen, wenn ich mich mal umsehe“, sagte er, umso entschlossener, weil sie so offensichtlich darauf bestand, dass er draußen blieb. Was versteckte sie hier drin? Er schritt vorbei an deckenhohen, vollgepackten Bücherregalen, vorbei an dem kleinen Sofa und dem Beistelltisch, auf dem seit der letzten Nacht immer noch eine Lampe brannte. Weiter hinten im Raum sah er einen Schreibtisch aus dunklem Walnussholz, auf dem ein Anflug von Chaos herrschte, als wäre die Arbeit Hals über Kopf liegen gelassen worden.

Und hinter dem Schreibtisch stand auf einem breiten Arbeitstisch eine Art Architektenmodell. Es musste wohl irgendein Projekt für die Dunklen Häfen sein - etwas, von dem es später wieder ein Foto von Claire und ihrem perfekten Lächeln geben würde, wie sie als Roths perfekte Gefährtin neben einer Gruppe seiner Kumpane posierte. Aber als er sich dem Modell näherte, stellten sich seine Nackenhaare auf.

Er kannte dieses Stück Land.

Er kannte seine Form, wie es aussah... wie es sich anfühlte.

Es war sein eigenes. .

Auf diesem keilförmigen Gelände am Seeufer war sein Dunkler Hafen. Oder vielmehr war er dort gewesen, bevor Roths Heimtücke und Reichens eigene Verzweiflung ihn in rauchende Trümmer verwandelt hatten.

„Was zur Hölle ist das?“

Claire stellte sich neben ihn, mit angespanntem Gesichtsausdruck.

„Andreas, alle dachten, du seist tot. Es gab keine Erben, die Anspruch auf das Grundstück erhoben. Es sollte unter dem Rest der Berliner Vampirgemeinde versteigert werden...“

„Das war mein Land.“ Seine Stimme begann seltsam zu zittern. „Das war mein Zuhause.“

„Ich weiß“, sagte sie schnell. „Ich weiß, und ich konnte nicht zulassen, dass es verkauft wird. Als ein paar von uns aus der Region vor einigen Wochen die Trauerfeier für dich und deine Familie abhielten und ich erfuhr, dass sich noch niemand gemeldet und Anspruch auf das Land erhoben hatte, habe ich das Grundstück selbst gekauft. Niemand wusste davon.

Ich wollte etwas Besonderes dort. Ich wollte, dass es eine Art Gedenkpark wird. In Erinnerung an die, die dort gestorben sind.“

Reichen starrte das Modell an, den friedlichen Park mit seinen sorgfältig angelegten Zierteichen, Spazierwegen und Blumenbeeten. Die ganze Anlage war wunderschön. Perfekt.

Claire hatte das getan... für ihn.

Er war verblüfft. Vor Überraschung sprachlos.

„Es steht mir wohl nicht zu, das zu machen“, sagte sie. „Es tut mir leid. Ich konnte nur einfach den Gedanken nicht ertragen, dass dein Zuhause meistbietend versteigert und der Tod deiner Verwandten vergessen wird. Es kam mir einfach nicht richtig vor. Aber was ich getan habe, kommt dir wahrscheinlich auch nicht richtig vor.“

Reichen stand da, schweigend, reglos. Zu sagen, dass er Claires Akt des Mitgefühls nicht fassen konnte, war extrem untertrieben. Er war bewegt - tiefer, als er es seit vielen Jahren gewesen war. Er starrte das Architektenmodell an, sah all die Einzelheiten, all die liebevolle Sorgfalt, die man für die Anlage verwandt hatte.

Für ihn. Und zum Gedenken an seine Familie.

Langsam drehte er sich zu Claire um und wusste, dass sein Gesicht so reglos wie Stein sein musste, so prompt, wie sie einen Schritt zurückwich. Gut, dachte er. Gut. Halte sie auf Abstand.

Denn alles, was er in diesem Augenblick tun wollte, war, sie fest in seine Anne zu nehmen und sie zu küssen, bis ihnen beiden der Atem ausging.

Aber sie war Roths Gefährtin.

Die Gefährtin seines Feindes.

Und er war immer noch gefährlich, immer noch zu nahe auf der rasiermesserdünnen Grat über dem Abgrund seines Hungers. Wenn er Claire jetzt berührte, konnte er sich nicht darauf verlassen, dass er es dabei beließ. Wenn er auch einst in seinem Leben ein Ehrenmann gewesen war, hatte das Feuer, das vor drei Monaten wieder in ihm erwacht war, diesen Teil von ihm schon beinahe verschlungen. Er war eine Gefahr für Claire, auf mehr als nur eine Art.

„Ich will allein sein“, murmelte er mit einem kehligen Fauchen.

Es war ihm ernst damit. Er konnte jetzt nicht in ihrer Nähe sein. Er wollte nicht an die kurze Zeit mit ihr denken, die sich so unauslöschlich in ihn eingebrannt hatte, oder wie schnell sein Körper - und auch sein nur allzu schwaches, empfängliches Herz - immer noch auf ihre bloße Anwesenheit reagierte.

Er wollte sie nicht ansehen, als sie sich ihm jetzt näherte, ihre Miene sanft und besorgt, ihre Hand ausgestreckt, als wolle sie ihn berühren. Etwas, wonach er sich in diesem Augenblick selbstsüchtig und mit ganzer Seele sehnte. Sein Puls hämmerte hart in seinen Venen. Sein Mund war nass vor Hunger nach ihr, sein Schwanz steif und schwer vor Begierde.

Nur ein einziger Schritt trennte sie noch voneinander. Er hielt den Atem an, als sie die Hand hob und sie sanft auf seine Brust legte. „Andreas, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht...“

„Raus, Claire.“ Zischend sog er den Atem durch Zähne und Fangzähne. „Sofort, verdammt!“

Sie erschrak angesichts seines donnernden Wutschreis, zuckte vor ihm zurück, als wolle er sie schlagen. Sie blinzelte, ihre Lippen geöffnet, aber stumm. Dann floh sie ohne ein Wort aus dem Raum.

Als er sicher war, dass sie fort war, ging Reichen langsam zur Bibliothekstür hinüber und schloss die beiden Flügel. Er sagte sich, dass er erleichtert war, dass sie fort war. Wenn ihr Wohlergehen ihr am Herzen lag, sollte sie das Haus verlassen und vor ihm davonrennen, so weit sie nur konnte.

Er betete nur, dass er stark genug sein würde, der Versuchung zu widerstehen, ihr zu folgen, zwischen jetzt und dem Sonnenuntergang, wenn er endlich wieder hinauskonnte, um seinen Blutdurst an jemand anderem zu stillen... jedem anderen, nur nicht an ihr.

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